Karfreitag 2023 Bildbetrachtung,
Pfarrerin Anette Prinz, Musikstücke: Susanne Weingart-Fink
Karfreitag, ein Tag des Schmerzes, ein stiller Tag. Das Kreuz: Sammelpunkt aller Klagen und allen Leids in uns und in aller Welt. Und zugleich eine große Zusage: „So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeboren Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“(Joh 3,16)
♫ NL +164 1. In einer fernen Zeit gehst du nach Golgatha, erduldest Einsamkeit, sagst selbst zum Sterben ja.
2. Du weißt, was Leiden ist. Du weißt, was Schmerzen sind, der du mein Bruder bist, ein Mensch und Gottes Kind.
3. Verlassen ganz und gar von Menschen und von Gott, bringst du dein Leben dar und stirbst den Kreuzestod.
4. Stirbst draußen vor dem Tor, stirbst mitten in der Welt. Im Leiden lebst du vor, was wirklich trägt und hält.
5. Erstehe neu in mir. Erstehe jeden Tag. Erhalte mich bei dir, was immer kommen mag. Amen, Amen, Amen.
Andacht: Ein Bild möchte ich mit Ihnen betrachten Ein Bild, das zu Zeiten eines Krieges gemalt wurde. Der Künstler Marc Chagall wurde 1887 in einem Dorf in Belarus-Weißrussland geboren. Er starb mit knapp 98 Jahren in seiner Wahlheimat in der südfranzösischen Provence.
Marc Chagall war jüdischer Abstammung. Schon als Kind erlebt er Pogrome in seiner Heimat.1923, als der russische Kommunismus die Freiheit künstlerischen Schaffens mehr und mehr einschränkt, siedelt er nach Paris über. Als die systematische Verfolgung von Juden mit der deutschen Besetzung Frankreichs auch die Juden dort erreicht, flüchtet er 1941 ins Exil in die USA.
Ihn erschüttern die Nachrichten des II. Weltkrieges, die ihn dort erreichen. Seine weißrussische Heimatstadt Witebsk wird von der Wehrmacht eingenommen. Die Stadt wird in den folgenden Jahren fast vollständig zerstört, ihre jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner werden vertrieben oder ermordet.
Chagall malt in dieser Zeit mehrere Bilder, in denen der gekreuzigte Christus im Mittelpunkt steht. Das nebenstehende Bild trägt den Titel
„Die gelbe Kreuzigung“. Er malte es 1942.
Immer sind Chagalls Bilder voller Einzelheiten. Dieses Bild zeigt die Schrecken des Krieges:
Eine brennende Stadt rechts unten. Sie findet sich auf vielen seiner Werke. Eine Erinnerung an das Schicksal von Witebsk.
Darüber: Flüchtende. Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen und bei sich tragen, was sie schleppen können.
Auf der linken Seite ein brennendes, sinkendes Schiff. Ertrinkende Menschen.
Eine Frau fällt ins Auge mit ihren Brüsten. Sie sind bei Chagall neben dem erotischen Gedanken ein Bild für Fruchtbarkeit, Leben und Lebendigkeit. Der Ertrinkende streckt seine Arme sehnsüchtig nach ihr aus.
Im Vordergrund flieht eine Mutter mit ihrem Säugling. Kinder sind die Zukunft und sie sind die Hoffnung. Diese Frau rettet Leben, und bringt es in Sicherheit. Sie rettet die Hoffnung auf Weiterleben. Begleitet wird sie von einer blauen Ziege. Auch sie eine Erinnerung an die frühere Heimat. Ziegen waren dort Versorgungstier der kleinen Leute
Zu der jungen Mutter könnte uns auch Maria in den Sinn kommen. Auch sie und Josef sind nach Jesu Geburt Flüchtende. Krieg, Flucht, Vertreibung - sie gehören zur Menschheitsgeschichte und auch zur Geschichte des Volkes Gottes. Noch leben wir in einer unfriedlichen Welt. Noch ist Frieden, Gerechtigkeit und gutes Miteinander unsere Aufgabe.
Das sinkende Schiff. Brennende Städte und Dörfer. Menschen, denen der Krieg das Leben nimmt. Menschen auf der Flucht. Ertrinkende Menschen. Menschen, die um Hilfe bitten.
Menschen, denen Angst, Mühsal, Hilflosigkeit, Resignation ins Gesicht geschrieben steht.
Wie erschreckend aktuell das alles ist! Ich brauch keine Orte nennen, keine Szenarien beschreiben.
Wir kennen sie. Sie drücken uns allen schwer aufs Gemüt.
Ungezählte Gebete mit der Bitte um Frieden sind schon gesprochen worden. Wie viele Menschen können auch heute, wie Jesus damals, nur rufen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Trotz der erfahrenen Übermacht des Bösen gibt es Zeichen der Hoffnung und des Vertrauens in diesem Bild zu entdecken. Über allem abgebildeten Leid schweben drei Symbole:
Eine geöffnete Thora: Sie signalisiert in ihrer Größe auch ihre Bedeutsamkeit.
Unter ihr ein Engel mit einer Schofarposaune. Er ist seit alters her das erwartete Zeichen für den Anbruch der messianischen Heilszeit. Die linke Hand des Engels hält ein Licht der Hoffnung. Sie deutet dabei auf das dritte Symbol: Christus am Kreuz Das Licht lässt mich in meiner christlichen Sozialisation an Jesu Worte denken: “Ich bin das Licht der Welt“.
Jesus trägt die jüdischen Tefilin/Gebetsriemen am Kopf und Arm. Und einen jüdischen Gebetsschal um die Lenden: Zeichen seines Jüdischseins.
Für Chagall ist der gekreuzigte Jesus das Sinnbild des leidenden, gequälten und schuldlos verfolgten jüdischen Volkes. An einen Freund in Israel schreibt er: "Was denkst du von meinen Bildern, die man Kreuzigungen nennt und die doch nichts anderes bedeuten als unser jüdisches Märtyrertum?“
Eine bittere Mahnung liegt in Chagalls Darstellung des Gekreuzigten: Merken denn die Christen gar nicht, wen sie töten, wenn sie das jüdische Volk verfolgen?
Alle drei Hoffnungssymbole sind auf derselben Ebene, nebeneinander angeordnet:
Tora und Kreuz, Altes und Neues Testament, Juden und Christen.
Aus einem gegeneinander der beiden Glaubensrichtungen formt Chagall ein Miteinander.
Was für eine Versöhnungsbotschaft, die in diesem Bild steckt!
So deute ich Chagalls jüdischen Christus: Wir sind verbunden, Christen und Juden - auch in ihm.
Tora und Kreuz: Gemeinsam müssen wir einstehen für Gottes Wort und für seine Botschaft von Frieden und Freiheit. Das ist die eine Botschaft des Bildes.
Die andere: Uns trägt die gleiche Hoffnung.
Die Tora ist grün. Die Farbe der Hoffnung. Zentrum der Tora ist die Zusage Gottes: Ich bin der Ich bin da! In Christus hat dieses Da- und Dabeisein Gottes eine neue Dimension bekommen. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.
Christi Kreuz ragt im Bild mitten hinein in alles Leid und alle Schrecken der Erde. Es ist, als ob Jesu Füße auf der Erde stehen. Er bleibt hier. Mittendrin.
Das himmlische Blau seines Lendentuches spiegelt sich wider auf dem Gesicht der fliehenden Mutter. Gott hat sich in Jesus mit uns Menschen verbunden. Nicht mit irgendwelchen Menschen. Am Kreuz verbindet sich Christus mit denen, die leiden an Leib und Seele. Ich bin da mitten in eurem Leid, sagt uns das Kreuz.
Die Frau lächelt, als sei sie schon gerettet. Lebt sie in der festen Gewissheit, dass Gott seine Zusage „Ich bin da“ einhält? Hält sie sich daran fest, dass er sie so selbstverständlich und liebevoll versorgen wird, wie sie selber ihr Kind nährt?
Der Kopf Jesu hängt nicht, sondern ist aufrecht. Seine Augen sind geschlossen.
Als wollte er betonen: ich leide mit euch. Und ich bleibe. Das steht unverrückbar fest.
Noch eine Figur will ich in den Blick nehmen: Den Mann mit der Leiter.
Im wahrsten Sinne des Wortes befindet er sich mitten im Untergang. Er weist mit der Hand auf Christus, so wie in den Evangelien der römische Hauptmann: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen.“
Die Leiter wird zur Kreuzigung benötigt und doch weist sie darüber hinaus. Sie ragt in den geöffneten Himmel. Sie verbindet Himmel und Erde. Der Leiterträger nimmt sie weg und sagt mit seiner Geste: „Seht, er, Jesus, verbindet Himmel und Erde, verbindet Gottes Wort und all das, was ihr erlebt. Sein Wort bringt Licht in alles Dunkel. Gottes Geschichte mit seinem Volk ist noch nicht zu Ende, auch wenn es in schweren Zeiten so scheint“.
Auch im schlimmsten Leid ist Gott gegenwärtig. Das ist der Trost, den uns der Karfreitag schenkt.
♫ NL + 208
1. Warum leiden so viele Menschen, und ihr Leben ist bedroht? Warum musste Jesus sterben einen bittren Kreuzestod? Die Olivenbäume weinen, Trauer legt sich auf mein Herz. Schaut und seht im Vorübergehen, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz.
2. Dunkel scheinen mir die Tage, und ich sehe oft kein Licht. Gott, erhöre meine Klage, sei uns nah, verlass uns nicht! Lass die Hoffnung in uns wachsen: Leben schafft sich wieder Raum. Und das Holz des Kreuzes Jesu wird für uns zum Lebensbaum.
Gebet
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – für immer ist dieser Verzweiflungsschrei mit dem Sterben deines Sohnes verbunden, Gott. In seine Klage mischt sich der Schmerz so vieler anderer, die ihren Feinden hilflos ausgeliefert sind und die fürchten, du hättest sie auch verlassen. Wir bitten dich: Hör nicht weg, sieh nicht weg von den Orten des Jammers auf unserer Erde. Halte aus, woran wir zu zerbrechen drohen. Gott unser Gott verlass uns nicht. Vater unser
Segen: Es segne dich in Freud und Leid der lebendige Gott, Vater Sohn und Heiliger Geist. Amen.